Es weihnachtet sehr…

Als mir heute Morgen Adelheid die Plastikbox mit Jausenbroten in die Hand und einen feuchten Schmatz auf die Wange drückte, gab sie mir auch einen Auftrag mit: „Moser, bring auf dem Heimweg einen Liter Milch aus dem Supermarkt mit!“ Auf meinen fragenden Blick strich sie mir mit dem Handrücken über die Wange und ergänzte: Keine Soja- oder Mandelmilch, keine Kokos- und keine H-Milch. Ganz normale Kuhmilch, also Vollmilch von der Kuh. Und keine Magermilch. Die gute, mit 3,6% Fett. Du schaffst das schon! Ich memorierte Heidis Anweisungen und begab mich auf den Weg in die Fischkonservenfabrik.

Als ich am späten Nachmittag den Supermarkt betrat, war ich etwas verwirrt. Der mir dargebotene Blick wich doch erheblich von dem mir gewohnten Bild ab. Nach den frischen Backwaren und vielen grünen Gemüsen landete ich in einer Art Winterwonderland – in diversen Papp-Aufstellern türmten sich Lebkuchen in vielfältigen Ausformungen, die wundersamen Spekulatius-Kekse lockten mit zimtigen Genüssen, und zwischen alltäglichen Naschereien lugten sogar schon ein paar Nikoläuse hervor. Wo war ich gelandet? Spielte mir das Raum-Zeit-Kontinuum einen Streich, saß ich noch in meinem Büro und träumte? Nach meiner Zeitrechnung schrieben wir erst den 19. September, gut drei Monate vor Heiligabend, und der Supermarkt prahlte bereits mit weihnachtlich geformter Vollmilchschokolade und Dezember-Gebäck!

Gerade als ich auf meinem Smartphone eruierte, dass in Wien Sonnenschein bei 23° Celsius zum Flanieren und einem Coup Heiße Liebe locken, bog Abteilungsleiter Azim mit einem Einkaufswagen voller Mandelgebäck und Christstollen um die Ecke. Als mich der gute Mann erblickte (ich bin in unserer Filiale durchaus bekannt), wollte er unauffällig in den benachbarten Gang abbiegen, aber ich signalisierte ihm mit meiner ausgetreckten rechten Handfläche ein konsumentenorientiertes Stopp! „Herr Azim“, legte ich ihm von Abteilungsleiter zu Abteilungsleiter meine Hand um die braun ummantelte Schulter, „wenn ich richtig rechne, muss ich noch rund 78 Mal schlafen, bis der Nikolaus kommt. Und ungefähr 94 Mal bis das Christkind kommt. Warum also präsentierten sie hier mitten im Spätsommer schon das Halleluja der Geburt Christi?“

Herr Azim erbleichte und stammelte etwas von Kundenwünschen, Vorlauf und Konzernzentrale. Zärtlich wischte ich ihm einen Schweißtropfen von der Stirn. „Also kann ich, Ihrer Argumentation folgend, im Januar in ihrem geschätzten Etablissement bereits mit schokoladigen Osterhasen rechnen?“ Auf diese Frage war der Abteilungsleiter in seinen Schulungsseminaren wohl nicht vorbereitet worden. Und ehe ich mich für sein Stottern zu sehr fremdschämen musste, lenkte ich ab: „Herr Azim – wo finde ich jetzt 1 Liter Milch? Also keine Soja- oder Mandelmilch, keine Kokos- und keine H-Milch. Ganz normale Kuhmilch, reine Vollmilch von der Kuh. Und keine Magermilch. Die gute, mit 3,6% Fett. Wo?“

Ich glaube, der Abteilungsleiterfinger zitterte leicht, als er Richtung Kühlregal wies.

Foto: Süddeutsche Zeitung

16 Kommentare zu „Es weihnachtet sehr…“

  1. Kundenwünsche, pffff…! Ich kenne keinen, der so etwas wünscht! Ich brauche ja auch keinen Spargel im Dezember, keinen Grünkohl im Juli und kein Sauerkraut im August! Warum also sollte ich Spekulatius, Christstollen und sonstiges Gedöns im September wollen!?

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    1. Also ich genieße die frischen Dominogebäcksteine jetzt schon. Im Advent sind sie schon altbacken. Die könnte ich das ganze Jahr essen.

      Der arme Azim war nur nicht schlagfertig genug. 😉

      Wieder eine sehr schöne Geschichte, Herr Moser.

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  2. Ich warte ja nur darauf, dass es Osterhasen, Nikoläuse (das klingt immer so herrlich nach Laus) und Co das ganze Jahr über gibt. Dazu die passende Wettermischung, eine Tüte Schnee oder Sonne. Dann kann sich jeder jederzeit seine Feste selber backen … Wie stets schön geschrieben – meinen Dank!

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