Eigenbrötler

Die nahe gelegene Kirchturmuhr verkündete die Mittagsstunde, Kollege Cerny klappte den Deckel seines Laptops zu und frug: „Na Herr Moser, kommen Sie mit in die Kantine?“ Ich verneinte kopfschüttelnd und öffnete meine Plastik-Lunchbox, wo mich von Heidi liebevoll handgeschnitzte Karottenstäbchen nebst Pumpernickelbrot mit fettreduziertem Putenschinken höhnisch angrinsten. „Sie sind ein alter Eigenbrödler“, meinte Cerny, und sprach es tatsächlich mit  weichem d wie Dora aus, so als würde etwas in mir brodeln.

Der Klugscheißer in mir hob sofort zur Belehrung an: „Im 16. und 17. Jahrhundert wurden jene Bewohner eines Hospitals Eigenbrötler genannt, die ihr eigenes Brot aßen, also auf eigene Kosten dort untergebracht waren. Sie waren der Regel etwas besser gestellt und hielten sich von anderen Bewohnern, die meist auf Almosen angewiesen waren, fern. Der Ausdruck Eigenbrötler für einen Menschen, der lieber für sich sein will, hat also mitnichten etwas mit brodeln zu tun, sondern mit dem eigenen Brot, Herr Cerny. Und da ich heute ein Schinkenbrot dabei habe, bin ich im ursprünglichen Wortsinn sogar ein Eigenbrötler.“ Mein Kollege sah mich desinteressiert an, seine Augen hinter den dicken Brillengläsern schwammen gelangweilt hin und her: „Gehen Sie nun mit in die Kantine oder nicht? Heute gibt es gefüllte Paprika.“

Peng, das saß. Gefüllte Paprika. Seit ich denken kann, zählen die mit würzigem Faschierten (in Deutschland etwas brutal Hackfleisch genannt) gefüllten Paprikaschoten in fruchtig-pikanter Tomatensauce mit buttrigen Petersilienkartoffeln zu den Top 5 meiner Lieblingsgerichte. Auch wenn die Köche unserer Kantine nicht gerade zu den Meistern ihres Fachs zählen: gefüllte Paprika haben sie drauf. Die Lefzen meines inneren Schweinehundes begannen zu tropfen. Mein Blick fiel auf die Rohkost im Plastikschälchen und der Schweinehund begann bedrohlich zu knurren. Ich gab auf. Immerhin hielt ich diesen Diät-Wahnsinn nun schon seit über einer Woche (bis auf wenige Ausrutscher) durch, und bei gefüllten Paprika kann man schon mal schwach werden. Paprika und Tomaten sind ja eigentlich gesundes Gemüse, und der Klacks Faschiertes macht den Moser auch nicht fett.

Seufzend schloss ich den Deckel meiner Tupperware und sagte resignierend zu Cerny: „Ich mach mir zwar nicht viel aus gefüllten Paprika, aber damit Sie sehen, dass ich kein Eigenbrötler bin, begleite ich Sie in Gottes Namen in die Kantine.“

Gleich nachdem ich abends nach Hause gekommen war und Heidi ein Begrüßungsbussi auf die Wange und meine vorsorglich entleerte Plastikdose in die Hand gedrückt hatte, eilte ich nach oben ins Badezimmer und ließ mein mit Tomatensauce vollgekleckertes, weißes Hemd im Wäschekorb verschwinden.

19 Kommentare zu „Eigenbrötler“

  1. Lieber Herr Moser!

    Ich nehme an, dass Sie den Inhalt Ihrer Lunch-Box den Zeugen Jehovas geschenkt haben, nachdem bereits der Kuchen so christlich mit ihnen geteilt wurde. 🙂

    Herzliche Grüße… ich hoffe, der Fleck geht raus
    Mallybeau

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  2. … wo es von Heidi natürlich nie gefunden werden, ihr Ausrutscher also NIE UND NIMMER auffliegen wird :o) … auf die Fortsetzung dieser Geschichte mit äußerster Gespanntheit wartend, mit froindlichsten und verständnisinnigen Grüßen, diespringerin :o) …

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  3. Es ist Viertel nach acht, ich habe keinen Hunger, aber sobald ich „gefüllte Paprika“ lese, beginne auch ich intensiv mit der Speichelproduktion. Da muss ich erst einmal einen trockenen Butterkeks runterwürgen … 😉

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