Muttertag

Liebe Leute, in 19 Tagen ist auch schon wieder Muttertag. Jeden zweiten Sonntag im Mai ehren wir unsere braven Mütter, und ich kann gar nicht früh genug mahnen, diesen Feiertag nicht zu vergessen und das Datum im Kalender rot anzustreichen. Seit Jahrzehnten kriecht ab Ende April die Angst in mir hoch, besagten Sonntag zu verschwitzen und Mama Moser mit einem in letzter Sekunde erbeuteten Blumenstrauß von der Tankstelle gegenübertreten zu müssen. Ein Trauma, das ich Emil Richter verdanke.

Emil war in den 70ern mein Mitschüler in der Unterstufe des Gymnasiums. Mit geschlossenem Hemdkragen stets adrett gekleidet und das etwas struppige Haar von der Mutter zum strengen Scheitel gebürstet, war er unser Klassenbester. Einer von der Sorte, die vor der Schularbeit jammern, zu wenig gelernt zu haben und doch immer mit einem Sehr gut glänzten. Ein Streber wie aus dem Lexikon. Warf der Lehrer die Frage nach der Hauptstadt der Mongolei oder der Formel zur Berechnung des Kreisumfangs in den Klassenraum, fuhr Richters Arm pfeilschnell in die Höhe – und mit Daumen und Mittelfinger schnippte er ein aufgeregtes „Herr Fessa, Herr Fessa!“ (Anm.: In Wiener Gymnasien wurden die Lehrer „Professor“ genannt, und „Herr Fessa“ war die Kurzform für „Herr Professor“ und galt als probates Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen.)

An einem warmen Freitag Anfang Mai standen wir in der 10-Uhr-Pause beisammen, als der kleine Streber Emil verkündete, dass er diesmal ein ganz besonders tolles Geschenk für seine Mutter vorbereitet habe. „Hat sie Geburtstag?“ frug ich unbekümmert. „Haha!“ lachte das Muttersöhnchen, „Am Sonntag ist doch Muttertag!“ und schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder, denn ich hatte diesen wichtigen Ehrentag glatt vergessen – und logischerweise auch kein Geschenk für Mama Moser. Was aber viel schlimmer war: Ich hatte bereits mein ganzes Taschengeld für Superman-Comics, Cremeschnitten und Knallfrösche verjubelt, sodass ich nun mittellos und ohne Geschenk dastand. Ich überlegte fieberhaft, wie ich diese Misere lösen könnte, als ich einen genialen Einfall hatte.

Der Schwachpunkt in Emil Richters ansonsten scheinbar so perfektem Leben waren seine Pausenbrote. Während ich mich an üppig mit Butter, Salami, Käse und Gürkchen belegten Broten laben konnte, die mir Mama mit viel Liebe täglich komponierte, schwamm die Strebermutter Richter mehr auf der Gesundheitswelle: Oft beobachtete ich Emil, wie er unglücklich an seinem Frischkäse-Knäckebrot und an einem Stück Apfel (geschält und in Spalten geschnitten) knabberte. Also schlug ich ihm folgenden Deal vor: „Gib mir dein Muttertagsgeschenk, dafür bekommst du einen Monat lang meine Pausenbrote!“ Dabei wedelte ich verführerisch mit meiner Stulle vor seiner Nase. Der Klassenprimus knickte beim Anblick von Schinken/Gouda/Senf sofort ein: „Abgemacht!“ Er fischte ein dünnes, längliches Päckchen aus seinem Ranzen, hübsch in Goldpapier verpackt. Es sah toll und sehr wertvoll aus. Am Nachmittag malte ich noch ein rotes Herz in mein Vokabelheft, schnitt es aus und schrieb mit Füllfeder Für die beste Mama von Mosi darauf.

Am Sonntagmorgen tapste ich in die Küche, wo meine Mutter den Frühstückstisch deckte, holte das goldfarbene Paket unter der Pyjamajacke hervor und überreichte es ihr mit den klassischen Worten: „Alles Gute zum Muttertag!“. Mama war vor Freude ganz aus dem Häuschen, trocknete sich die Hände an der Schürze und packte mein Geschenk vorsichtig aus (Geschenkpapier wurde im Hause Moser stets glatt gestrichen, gefaltet und aufbewahrt). Sie holte ein schmales Heftchen hervor, das Emil offenbar mit Blumen und Herzen bemalt hatte. Sie blätterte darin und ihre Augen wurden vor Erstaunen und Freude groß: „Ach du gutes Kind!“ rief sie und drückte mein Gesicht an ihren wogenden Busen. „Nein, welche Freude! Danke! Eine wundervolle Idee!“ Dem feuchten Kuss konnte ich nicht mehr zeitgerecht ausweichen, aber ich war zufrieden. Mit meinem Präsent hatte ich ja scheinbar einen echten Volltreffer gelandet. Sie legte das Heft auf den Frühstückstisch und wandte sich dem pfeifenden Teekessel zu. Rasch blätterte ich durch Emils „besonders tolles Geschenk“ und verfiel in eine Art Schockstarre.

Hatte das Muttersöhnchen Emil doch tatsächlich ein Gutscheinheft gebastelt! Bestürzt las ich da Dinge wie 1x Zimmer aufräumen, 3x Müll runterbringen oder 2 x Geschirr abtrocknen. „Richter, du Arschgesicht“, murmelte ich erbost. „Hast du etwas gesagt, mein Liebling?“ frug Mama und goss Earl Grey in die Tassen. Ich zögerte nicht lange und sagte: „Darf ich mir auch etwas wünschen Mama?“ „Was denn, mein Schatz?“ „Ich möchte mich gerne etwas gesünder ernähren“, gab ich stolz und ohne rot zu werden kund. „Würdest du mir bitte ab morgen nur gesunde Sachen für die Schuljause mitgeben? Knäckebrot und ein bisschen Obst wäre fein!“

Also vergesst nicht: Am 14. Mai ist Muttertag! Besorgt rechtzeitig ein hübsches Geschenk, das erspart viel Ärger.

29 Kommentare zu „Muttertag“

  1. Lieber Herr Moser!
    Hier erkennt man einmal mehr Ihren Erfindungsreichtum. Der werte Emil wird sich bestimmt sehr über sein Knäckebrot gefreut haben 🙂
    Und wurden Gutscheine dieser Art in der Kindheit jemals von jemandem eingelöst? Ich entsinne mich, ebenfalls diverse gebastelte Klappkarten mit guten Taten vollgeschrieben zu haben, die ich, das muss ich zu meiner Schande gestehen, nie eingelöst habe. Glücklicherweise hat sich meine Mutter auch mehr an den schön verzierten Gutscheinen als an dem Geschriebenen erfreut…. und der gute Wille zählt schließlich 🙂
    Herzliche Grüße
    Mallybeau

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      1. Oh, ein Klassiker. Respekt, dass Sie das durchgezogen haben. Hoffentlich hatten Sie nicht den ungeliebten Platz direkt neben dem schwül-warmen Diaprojektor, der jede Menge Staubteilchen durch die Luft gewirbelt hat 🙂

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  2. Das ist wieder so köstlich, dass es mir doch tatsächlich den Abend versüßt – ich kann nicht mehr vor Lachen (Smileys müssen auf dem PC leider noch erfunden werden – stell Dir einen zehnfachen LACHSMILEY vor …)! Ich hätte ja am Liebsten geschrieben: „Sowas kommt von sowas.“ Aber der Streber hat ja sein „Fett“ noch abbekommen – JUHU.

    Herrliche Geschichte, lieber Moser – wieder ganz nach meinem Geschmack.

    Herzliche Grüße

    Sylvia

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  3. Herrlich 🙂
    Hat Mama Moser denn je erfahren, wer dieses hübsche Streberhaft gebastelt hat (ich sehe ihn mit seinem Kinn ein bisschen stolz-verlegen wacken, wie unser M..K.)?
    Ansonsten komme ich aus einer Region, in der wir früher den Frauentag zelebriert haben. Von der Existenz des Muttertages habe ich erst nach dem Fall der Mauer erfahren und dementsprechend wenig Tradition verbinde ich damit.

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