Sternschnuppen, Teil III

Pünktlich um 6:13 trat die gute, alte Sonne ihren Dienst an, kämpfte sich tapfer aus den Dünen hoch und schickte ihre ersten, wärmenden Strahlen übers Land. Ein gewisser Ludwig Lanzengruber, der tief und traumlos im Sand geschlafen hatte, streckte seine verspannten Glieder und gähnte. Sein Mund fühlte sich so ausgedörrt an wie die Sahara selbst, und in seinem Kopf spielte eine ganze Armada von Hummeln verrückt. Er brauchte ein paar Momente, um zu realisieren, wo er war und was gestern geschehen war. Ein Lächeln, nein ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. Er leerte die Wasserflasche mit gierigen Schlucken, dann ließ er seinen Blick über die endlosen Sandhügel schweifen und erneut durchzog dieses einzigartige Glücksgefühl seinen Körper. Ludwig packte den Rucksack und lief mit großen Schritten die Düne hinab, wo am Rande einer buckeligen Piste sein Land Rover wartete.

In der Oase befüllte er seine Wasser- und Benzinkanister, kaufte Fladenbrot und Datteln, blickte noch einmal hinüber zu den Dünen, wo ihm vielleicht so etwas wie „Gott“ begegnet war. Dann gab er Gas, Kurs Nordosten, Richtung Tunesien. Es war ein gänzlich anderer Mensch, der nun am Steuer saß. Fröhlich, fast ausgelassen, und voller Tatendrang. Die großartige Landschaft der algerischen Sahara zog am Fenster vorbei, hin und wieder kreuzte eine kleine Herde wilder Kamele seinen Weg. Kurz vor Ghudamis, der Grenzstadt zu Tunesien, standen drei Jungs mitten auf der Straße und winkten. Ludwig blieb stehen und schon standen die Burschen, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, französisch schnatternd am Wagenfenster. „Monsieur, Monsieur!“ riefen sie und hielten dabei wunderschön geformte, dunkelrote Steine – sogenannte Wüstenrosen – ins Innere. Er suchte sich ein besonders schönes Exemplar aus, das künftig auf seinem Schreibtisch Platz finden sollte. Den Jungs drückte er 500 Dinar in die schmutzigen braunen Finger, umgerechnet fünf Euro. Wahrscheinlich ein kleines Vermögen für sie, und sofort begannen sie lautstark gestikulierend die Scheine unter sich aufzuteilen. Lanzengruber drückte zwei Mal kurz auf die Hupe, winkte und setzte seinen Weg fort. Er fuhr entlang der tunesischen Küste über Gabes und Sfax, wo er sich ein paar Stunden am Strand und ein Bad im Mittelmeer gönnte. Dann ging es weiter Richtung Tunis, wo er mit der Fähre nach Sizilien übersetzen würde.

Und während dieser unbeschwerten Fahrt wälzte er Pläne. Zukunftspläne. Die Ideen sprudelten nur so aus ihm heraus. Eines war sicher: Das Reisebüro „Flamingo“ in seiner bisherigen Form war Schnee von gestern. Keine Pauschalreisen in irgendwelche All-inklusive-Clubs mehr, wo die Menschen mit Essen und Alkohol abgefüllt wurden, aber nichts von Land und Leuten mitbekamen. Kein Ballermann mehr mit „Deutshe Kuche“, keine Bettenburgen, keine überfüllten Strände. Lanzengruber wollte das Geschäft ganz neu aufziehen und sich auf exklusive und individuelle Reisen zu den schönsten Plätzen dieser Erde spezialisieren. Chichén Itza, die Mayaruinen auf der Halbinsel Yucatán, die Chinesische Mauer, die Felsenstadt Petra in Jordanien, der Grand Canyon, die Inka-Ruinenstadt Machu Picchu in den Anden…. und die Sahara. Die Welt war voll mit Reise-Juwelen. Er würde einen Kredit aufnehmen und das alte Geschäftslokal mit dem spröden Charme der 70er renovieren und modernisieren lassen. Auch der Internet-Auftritt musste künftig up-to-date sein, am Puls der Zeit, mit allen Schikanen. Und natürlich musste ein neuer Name her.

Während er im Hafen von Tunis auf die Fähre wartete, hatte er den entscheidenden Geistesblitz: „TRAVEL & SOUL – Reisen ist Leben“ würde der neue Laden heißen. Er würde tolle Anzeigen in Zeitungen und Reisemagazinen schalten und schon tauchten erste Ideen vor seinem geistigen Auge auf: Der Ayers Rock in Australien, bei Sonnenuntergang in orange-rotes Licht getaucht. Darüber der Slogan „Magic Moments – be part of it“, rechts unten sein neues Firmenlogo samt Internetadresse. Wie blind bin ich doch gewesen, dachte Ludwig und konnte es inzwischen nicht mehr erwarten, seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Er fuhr den italienischen Stiefel hoch, ließ Kilometer um Kilometer auf der Autobahn hinter sich. Er war kurz vor Bologna, nur noch 550 km von zu Hause entfernt. Ein Blick auf die Armbanduhr: 23:34. In fünf oder sechs Stunden konnte er in München sein. Im Radio spielte der Oldie-Sender „Blowin´ in the wind“ von Bob Dylan, einer seiner absoluten Lieblingssongs, und Ludwig sang aus vollem Hals mit: „How many roads must a man walk down, before you can call him a man….“ Ein grünes Schild kündigte eine Raststätte in 3 km Entfernung an. Der künftige Geschäftsführer von „TRAVEL & SOUL“ überlegte, ob er sich vor der letzten Etappe noch einen Espresso und ein Sandwich gönnen sollte. „The answer my friend is blowin´ in the wind….“

Christoph Lanzengruber warf eine rote Rose auf den Sarg. „Servus Papa“, flüsterte er. „Mach´s gut.“ Dicke Tränen liefen über seine Wangen und er schämte sich nicht dafür. Als Mama damals starb, hatte er natürlich gemerkt, wie sehr der Tod seiner Frau dem Vater zusetzte. Wie jedes Leben aus ihm wich, wie er innerlich versteinerte. Doch er hatte ihn nie in den Arm genommen und getröstet, sondern sich in seinem Zimmer verschanzt und für die Schule gebüffelt – das war eben seine Art, mit dem schmerzlichen Verlust umzugehen. Und das tat ihm jetzt unendlich leid. Papa hätte ihn gebraucht, sie hätten einander gebraucht. Aber zu spät. Ein türkisfarbener LKW aus Rumänien, voll beladen mit Bauholz, durchbrach auf der Autobahn bei Bologna die Mittelleitschiene und zerquetschte kurz nach halb zwölf Uhr nachts den olivgrünen Land Rover wie eine leere Coladose. „Der LKW-Fahrer ist wahrscheinlich eingeschlafen, Sekundenschlaf“, hatte ihm die Polizei später mitgeteilt.

„Wenigstens hat er sich seinen Traum von der Sahara noch erfüllt“, dachte er. Es begann leicht zu nieseln und Christoph schlug den Kragen seines schwarzen Regenmantels hoch. Frau Wagner, ein zitterndes Häufchen Elend, hakte sich bei ihm unter und gemeinsam gingen sie langsam Richtung Ausgang.

Auf Sternschnuppen ist eben kein Verlass.

(ENDE)

29 Kommentare zu „Sternschnuppen, Teil III“

  1. Es hört sich immer so altweiberaltklug an, aber ich habe es stark geahnt, dass er seinen Traum nicht verwirklichen kann, auch wenn es nicht die vom Tod seiner Frau behaltenen Tabletten ausgelöst haben.
    Das Schicksal geht oft (bockig) oder sogar meist seine eigenen Wege. –
    Sehr gut zu lesen.

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  2. Lieber Herr Moser!

    Ein wunderbarer Dreiteiler, der hier aus Ihrer Feder geflossen ist. Ich habe ihn mit Begeisterung gelesen. Es war eine spannende Reise in jeder Zeile. Und nie war Sand im Getriebe 🙂

    Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende wünscht
    Mallybeau

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  3. Ja, so kanns gehen. Ich hatte zwar schon befürchtet, dass er nicht überleben würde, trotz Saharaerweckungserlebnis, aber dennoch hätte ich es ihm gewünscht …
    Vielen Dank für die Geschichte, werter Herr Moser, ich habe sie mit ausnehmend großem Vergnügen gelesen.
    Herzliche Grüße
    Christiane

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  4. Schließe mich dem Lob hier an! Ich fand Lanzengrubers Tod sehr stimmig und sogar tröstlich: Er kommt mit sich nach Jahren der Trauer und Resignation ins Reine – das ist unsere Aufgabe, nicht unbedingt die Umsetzung neu entstandener Pläne. Sehr schön!
    So sehr ich den letzten Satz mag, so sehr hat er mich übrigens aus der Geschichte gerissen: Denn er wird offensichtlich vom Autor geäußert und nicht vom Sohn (der ja nix von den Sternschnuppen wissen kann). Da hätt‘ es mir persönlich besser gefallen, wenn Christoph selbst eine Sternschnuppe gesehen und sich Gutes für seinen Daddy gewünscht hätte. So als abschließender Kommentar vom Autor empfinde ich’s zwar pointiert und schön, aber eben aus der Erzählperspektive fallend.
    Egal: Über allem steht mein herzlicher Dank für die berührende Geschichte – und ich verweise auf die eingangs geäußerten Wünsche nach längerer Moser-Prosa 🙂 I

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  5. Auch ich schließe mich dem Lob an. So traurig es auch ist, es hätte kein schlüssigeres Ende für die Geschichte geben können. Ein rosa-rot-alles-gut hätte einen schalen Beigeschmack gehabt.
    Satztechnisch würde ich vielleicht zwei Leerzeilen oder drei Sternchen in leerer Zeile vor den letzten Absatz einfügen, um den Zeitsprung anzudeuten. Was das betrifft, kenne ich mich allerdings nicht als Fachfrau aus.
    Herzliche Grüße und gute Erholung nach der ersten Woche mit neuer Marketingchefin

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  6. Während ich immerwährend an der Qualität meiner Prosa arbeiten muss, die mir beiweitem nicht so leicht aus der AscheFeder fließt wie die Lyrik/Liedtexte, hast Du eine Feder aus Gold.
    DANKE für diese Geschichte, die mich aus meinen Umzugskartons herauslockte. 🙂

    Herzliche Grüße,
    Sylvia

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  7. Eine weitere Motivation im Jetzt zu leben. Das Beste aus dem und im Jetzt zu machen. Mit dem Vergangenen zügig abschließen und das Leben nicht zu träumen, sondern Träume schrittweise zu verwirklichen. Danke dafür!

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  8. Lieber Herr Moser,

    ein stimmiger, wenn auch trauriger Abschluss Ihrer Geschichte. Ein Happy-End würde nicht so zum Nachdenken anregen. Ich hoffe, Herr Lanzengruber ist nun bei seiner Frau, also doch ein gutes Ende. 😊

    Ich freue mich schon auf weitere Geschichten aus Ihrer Feder.

    LG, Susanne

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