Leberwurst des Todes

Als Teilnehmer des Moser´schen Reihenhaus- und Fischkonservenfabriklebens wissen Sie eventuell, dass Ihr geschätzter Abteilungsleiter mit einer Reihe von Phobien zu kämpfen hat. Dazu gehören die Angst vor Vögeln (insbesondere Tauben), die Flugangst, Höhenangst, die Klaustrophobie, die Phobophobie (die Angst vor der Angst), und die Angst vor Injektionen, um nur die wichtigsten zu nennen. Alle anderen Ängste sind nur latent vorhanden bzw. nicht extrem ausgeprägt (Maulwürfe, ungewolltes Urinieren, Clowns, hohe Geschwindigkeit etc.) oder wissenschaftlich nicht belegt. Meine liebende Gattin Adelheid hat im Lauf der Jahrzehnte gelernt, mit diesen kleinen Handicaps umzugehen. Denn auch wenn sie es nie zugeben würde, ist sie selbst mit einer nicht unerheblichen Angst gestraft: der Bacterio- und Bazillophobie, also der Angst vor Bakterien, Bazillen und Mikroben.

Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen: Sobald ein Lebensmittel auch nur in die Nähe des aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatums kommt, rümpft Heidi bereits die Nase. Offene oder bereits angebrochene Köstlichkeiten stehen bei ihr unter Generalverdacht der Ungenießbarkeit, überall wittert Heidi einen heimtückischen Angriff von Killerbakterien. Öffne ich freitags eine Packung Pfirsicheistee, und stelle sie gut verschlossen wieder zurück in den Kühlschrank, lugt sie samstags bereits argwöhnisch mit der Taschenlampe hinein, ob sich über Nacht nicht ein Schimmelteppich gebildet hat. Wurst, Käse, Marmelade und Brot haben bei Bacteriophobikerin Heidi grundsätzlich keine lange Lebensdauer, sobald sie geöffnet oder angeschnitten sind.

In Dutzenden wissenschaftlich fundierten Vorträgen habe ich bereits versucht, ihr die Unsinnigkeit ihres Ticks klarzumachen, und gegen die Verschwendung gewettert: „Butterkäse ist per se nicht böse und verwandelt sich über Nacht auch nicht in ein pelziges, verdorbenes Schimmelpilzmonster! Die Lebensmittelkonzerne sind böse, weil sie das Mindesthaltbarkeitsdatum viel zu früh ansetzen, um leichtgläubige Menschen wie dich in Angst und Schrecken zu versetzen und zum Kauf neuer Produkte zu bewegen. Alles nur Geschäftemacherei! Vertraue deinem Geschmacks- und Geruchssinn!“ Doch wer glaubt schon einem ängstlichen Abteilungsleiter, der im Glashaus sitzt und mit Tauben und Maulwürfen wirft. Heidi nicht.

Ich habe es auch schon mit einer Konfrontationstherapie versucht: Im Sommer versteckte ich im Kühlschrank hinter einem großen Gurkenglas ein Vanille-Joghurt, und zwar zwei Wochen über das aufgedruckte Haltbarkeitsdatum hinaus. An einem heißen Nachmittag richtete ich meiner arglosen Frau ein Schälchen Heidelbeeren, und übergoss es mit dem abgelaufenen Joghurt (natürlich habe ich es zuvor auf seine Unbedenklichkeit überprüft, davon genascht und es für einwandfrei befunden). „Seit wann haben wir Vanille-Joghurt im Kühlschrank?“ frug Heidi misstrauisch und schnupperte am Schälchen. „Hab ich vorhin gekauft. Ich wollte dir mit einer kühlen, gesunden Erfrischung eine Freude bereiten“, log ich ungeniert und sie machte sich freudig über die Beeren her. Es kam keine Reklamation, und ich ließ ein paar Stunden verstreichen ehe ich ihr gestand: „Das war ein kleines Experiment, um dir zu beweisen, dass abgelaufene Lebensmittel nicht automatisch giftig und ungenießbar sind. Das Joghurt ist vor zwei Wochen abgelaufen.“ Schlagartig wurde Heidi von heftigem, psychosomatischem Bauchgrummeln überfallen und sie verbannte mich in dieser Nacht auf die Wohnzimmercouch.

Gestern Abend sahen wir im Fernsehen Ausnahmekönnern der Kochkunst beim großen Wettbewerb „The Taste“ zu. Die begnadeten Damen und Herren zauberten so grandiose Gerichte auf die Löffel, dass sich unser Appetit direkt proportional zur Dauer der Sendung steigerte. In einer der zahlreichen Werbepausen eilte ich in die Küche, um Heidi mit kleinen Häppchen zu überraschen. Ich schnitt luftig-knuspriges Weißbrot und bestrich die Scheiben mit Leberpastete, welche ich ganz frisch aus ihrer luftdichten Verschweißung geholt hatte. Ablaufdatum: 18. 12. 2017. Stolz reichte ich Heidi den mit Rosmarin verziertenTeller mit den Broten und wünschte guten Appetit. „Ist die noch gut? Von wann ist die?“ frug mein Weib und meinte die Leberwurst. „Nein!“ rief ich. „Ich habe sie schon vor zwei Minuten (!!) geöffnet, jetzt ist sie total verdorben und ungenießbar! Auf dem Weg von der Küche ins Wohnzimmer wurde die Leberpastete von winzigen, unsichtbaren Todesbakterien und Schimmelsporen attackiert. Das ist ein heimtückischer Anschlag auf dein Leben!“ Zur Bekräftigung nahm ich einen riesigen Bissen vom nächstliegenden Brot und mampfte dämonisch lachend.

Adelheid fand das allerdings nicht lustig. Als ich heute Morgen auf der Couch wach wurde, musste ich mir mein Frühstück selbst richten. Heidi rumorte oben im Bad. Ich schaltete die Kaffeemaschine ein, und schob eine Aufbacksemmel in den Ofen. Ich hatte Lust auf Leberpastete und öffnete den Eiskasten (in der deutschen Synchronfassung dieses erschütternden Berichts würde an dieser Stelle Kühlschrank stehen). Der gestern geöffnete Brotaufstrich lag in einer doppelten Schicht Alufolie verpackt in einem kleinen Tupperware-Döschen. Darauf prangte ein Aufkleber mit der roten Aufschrift: Zu verbrauchen bis spätestens 10. November 2017!!!

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Konfrontationstherapie mit dem Joghurt nicht viel gebracht hat.

25 Kommentare zu „Leberwurst des Todes“

      1. Ah, verstehe. Der Besuch einer Vorstellung des Puppenspielers René Marik würde den Moserschen Blutdruck also nicht in schwindelerregende Höhen treiben, ein direktes Aufeinandertreffen mit diesen possierlichen Tierchen im heimischen Garten aber schon? 😉

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  1. Lieber Herr Moser!

    Ich denke, solange Ihre werte Heidi noch keine Anzeichen von Moserphobie ausstrahlt, Sie in Alufolie einpackt und regelmäßig nach Schimmelbefall untersucht, ist alles halb so wild 🙂 Guten Appetit!

    Herzliche Grüße
    Mallybeau

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  2. Das finde ich ja wieder spitze: Selbst im größten Glashaus aller Zeiten sitzen, aber mit Steinen werfen.
    Heidi soll sich wehren, soll sich was einfallen lassen gegen die Moserschen Phobien *grins*

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  3. Lieber Herr Moser, ich kann aus langjährigen Erfahrungen meines studentischen Speiseplans bestätigen, dass so viele Lebensmittel nach ihrer Deadline noch hervorragend schmecken und auch bedenkenlos verzehrt werden können. Zu viel wird leider einfach entsorgt, weil die Zahlen es einem sagen! Ich lebe jedenfalls noch und der dritten Arm, der mir gewachsen ist, hat sicherlich nichts damit zu tun… und selbst wenn, kann ich ihn gut gebrauchen.

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  4. Brilliant. Bin heute auf Deine Seite gestossen. Deine Texte sind echt beeindruckend“Der im Glashaus sitzt und mit Tauben und Maulwürfen wirft „. Herrlich, Ich liebe es, wenn man kreativ mit Redewendungen umzugehen weiss und damit es einfach nur auf den Punkt bringt. Gruss von Jochen

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