Schutt und Asche

Die abgelaufene Arbeitswoche war der blanke Horror – unsere geliebte Fischkonservenfabrik versank im Chaos, es regierten Schutt und Kälte. Was war geschehen? Bereits im Januar, kurz nach dem weihnachtlichen Betriebsurlaub, war die Heizung im Verwaltungstrakt immer wieder mal stundenweise ausgefallen. Einige Mitarbeiter mit besonders feinem Näschen wollten sogar Gasgeruch wahrgenommen haben. Gerüchte von einem Gasleck machten die Runde und Controllerin Kathrin K. meinte besorgt: „Ich bin bereit, wenn mein letztes Stündlein geschlagen haben sollte und ich von einer Gasexplosion zerfetzt werde – aber bitte nicht hier. Ich will nicht in der Fischfabrik meinen letzten Atemzug tun, das wäre ein unwürdiger Schlusspunkt meines Lebens!“ Offenbar sah dies unser großer Vorsitzender, der allmächtige Generaldirektor Mag. Erwin Pfotenhauer, ähnlich und veranlasste eine mess- und rohrtechnische Untersuchung der Heizung. Das Ergebnis war zwar nicht unmittelbar lebensbedrohend, aber doch niederschmetternd. Die Gas- und Heizungsrohre unserer in die Jahre gekommenen Manufaktur mussten umgehend getauscht und erneuert werden. Und letzten Montag nahmen die braven Handwerker ihre Arbeit auf.

Sie stemmten unsere hübschen, alten Ziegelwände erbarmungslos auf, errichteten im Treppenhaus metallene Gerüste, riefen sich in babylonischer Sprachverwirrung unverständliche Befehle zu, tranken bereits am Vormittag Bier und blockierten mit ihren LKWs meinen Parkplatz. Über allem lag eine dicke Schicht Ziegelstaub, und natürlich war es bitterkalt, weil die Heizung während der Instandsetzungsarbeiten abgeschaltet war. Wir schlichen wie verängstigte Tiere über die staubigen Gänge, dick eingemummt in Daunenparkas und Wollschals, und besuchten uns gegenseitig in den Büros: „Ist es bei euch auch so kalt?“ Am meisten litt unsere putzige Reinigungskraft aus der Ukraine. Editha raufte sich angesichts von Bauschutt und Staublawine die Dauerwelle und jammerte: „Kann ich nix putzen, kommt immer neie Dreck!“ Zum Beweis strich sie mit ihrem klobigen Zeigefinger über ein Fensterbrett und hielt mir ein Häufchen hellroten Ziegelstaub unter die Nase: „Cherr Moser, da guck! Hab ich geputzt vor einer Stunde! Ist Katastrophe. Jetzt Frihstickspause.“ Damit entschwand sie in der Herrentoilette.

Am Dienstag ließ Direktor Pfotenhauer zur Linderung der ärgsten Not elektrische Heizstrahler verteilen. Die Plusgrade stiegen dadurch zwar leicht in den zweistelligen Bereich (13°), doch fraßen die Radiatoren auch ungewohnt viel Strom. Um 10:45 brach das überlastete Stromnetz zusammen und wir saßen im Dunkeln. Kein Licht, keine Heizstrahler, keine Computer, kein Kaffeeautomat. An geregelte Arbeit war nicht zu denken. Am Mittwoch brachte ich meinen privaten, akkubetriebenen Laptop mit ins Büro und spielte mir klammen Fingern ein paar Runden Tetris. Kollege Cerny legte seine dicke Brille und das schwarze Schuppensakko ab, und übte sich in Leibesertüchtigung. Zwischen Kniebeuge 39 und 40 meinte er: „Das hält warm, ist gesund und vertreibt die Zeit.“ Ich weiß aber, dass er bereits für den Vienna City Marathon trainiert und jede freie Minute in körperliche Fitness investiert, da er die 42 Kilometer im Vorjahr nicht bewältigt hat. Zwischendurch hatten wir zwar kurzfristig wieder Strom, aber spätestens nach 30 Minuten war es wieder vorbei mit der Elektrizität. Die Kantine wurde geschlossen.

Am Mittwoch herrschten im Trümmerschutt weiterhin Kälte, Dunkelheit, Verzweiflung, Hunger und Arbeitslosigkeit. „So muss es meinen Eltern im Zweiten Weltkrieg ergangen sein“, sagte ich zu Editha, die gerade Mauerreste, abgeschlagenen Verputz und Ziegelbrocken in eine Schubkarre schaufelte. „Ja, haben wir cheute in Ukraine immer noch. Schlimm!“ Zum Troste drückte ich der gepeinigten Putzfrau meinen Plastikbecher mit Heidis Kaffee aus der Thermoskanne in die Hand: „Hier, machen Sie Pause. Das ist ohnehin eine undankbare Sisyphusarbeit.“ Aus dem zweiten Stock ertönte das ohrenbetäubende Dröhnen eines Presslufthammers, das Licht der Leuchtstoffröhren begann zu flackern. Editha ging hinter ihrem Putzwägelchen in Deckung.

Am Donnerstag hatte ich eine grandiose Eingebung: Ich würde bei Direktor Pfotenhauer vorsprechen und aufgrund der unzumutbaren Arbeitsbedingungen für die komplette Belegschaft der Verwaltung arbeitsfrei fordern! Bezahlt natürlich. Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits, wie mich die Kollegen und Kolleginnen auf die Schultern hoben, mich jubelnd durch die Abteilung trugen und als Helden feierten: „Herr Moser, er lebe hoch! Dreimal hoch! Unser Retter, unser Messias! Herr befiehl, wir folgen dir!“ Und wenn Pfotenhauer meine Forderung ablehnen sollte, würde ich einen Aufstand anzetteln. Viva la revolution! Ein Platz in den Geschichtsbüchern der Fischkonservenfabrik war mir sicher.

Um 13:15 hatte der Direktor endlich Zeit und empfing mich zu einer kurzfristig angesetzten Audienz. Ich hatte mich inzwischen in die Rolle des Widerständlers, des Aufrührers und Retters der Geknechteten eingelebt und trug mein Anliegen mit roten Backen und geschüttelter Faust vor. „Und darum fordere ich im Namen der Belegschaft für die Dauer der Instandsetzungsarbeiten bezahlten Urlaub!! Diese Zustände sind nicht länger tragbar, Sie gefährden die Gesundheit unschuldiger Menschen! Auf die Barrikaden, Genossen! Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit!“ Mit diesen geschichtsträchtigen Worten – hinausgeschrien in den Ziegelstaub, der auch vor dem kalten Büro des Generaldirektors nicht Halt machte – beendete ich meinen eindrucksvollen Vortrag. Bebend stand ich vor dem Big Boss, bereit für meine Leute zu sterben. Pfotenhauer sah mich gelangweilt an. „Herr Moser“, sagte er fast mitleidig, machte eine kleine Kunstpause und sah demonstrativ auf seine protzige Rolex. „Wie mir der Baustellenleiter eben mitgeteilt hat, sind die Arbeiten abgeschlossen und ab 14 Uhr wird die runderneuerte Heizung wieder laufen. Aber für die verbleibende halbe Stunde gebe ich Ihnen und Ihren Kollegen gerne frei.“ Zwar nur ein Pyrrhussieg, aber immerhin ein Sieg. Ich bedankte mich bei Mag. Pfotenhauer, salutierte kurz und kehrte zurück in meine Abteilung, um den Kollegen die frohe Botschaft zu überbringen.

Am Freitag fegte eine professionelle Putztruppe durch das Gebäude, und stellte zur Unterstützung unserer überforderten Editha mit acht Fachkräften, bewaffnet mit Hochdruckgebläsereinigern, den ursprünglichen Sauberkeitszustand wieder her. Die Heizkörper strahlten wohlig warm vor sich hin, Editha machte eine ausgiebige Frihstickspause mit Hasch Brownies auf der Herrentoilette. Meine Karriere als Revolutionär und Arbeiterführer war zwar vorzeitig geplatzt, aber ich bin froh, dass nächste Woche wieder Ruhe und Routine einkehren. Schönes Wochenende!

20 Kommentare zu „Schutt und Asche“

  1. Lieber Che Moser!

    Aller Anfang ist schwer. Aber auch eine kleine Revolution ist ja schon was. Ich bin mir sicher, dass Ihr Konterfei demnächst auf Tassen, Fahnen und Aufklebern in sämtlichen Wiener Souvenirläden zu sehen sein wird. Jedes Land braucht schließlich seinen Helden 🙂

    Herzliche Grüße und ebenfalls ein angenehm staubfreies Wochenende
    Mallybeau

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  2. Ich beglückwünsche das gesamte Team zur verdienten, neuen Wärme! Und mich auch:
    Mit kalten Fingern kann man nämlich auch keine amüsanten Mosergeschichten tippen!
    In freudiger Erwartung auf weitere Anekdoten und mit herzlichen Grüßen,
    Meermond

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