Zug nach Nirgendwo

Ich stand auf Bahnsteig 2 und starrte ungläubig auf die Anzeigetafel, die eben noch die Ankunft meiner Schnellbahn in drei Minuten angekündigt hatte. Nun war dort gelb auf schwarz „Zug unbestimmt verspätet“ zu lesen. Auf meiner tropfenden Nasenspitze hatte sich ein dünner Eiszapfen gebildet, den ich nun abbrach und einem dick vermummten, wartenden Schulkind wütend vor die Füße warf. Der etwa 7jährige Knirps (vielleicht war es auch eine Knirpsin, das war zwischen mehreren Schichten Anorak, Schals und Hauben nicht so genau zu erkennen) hob kurz seinen Blick vom Smartphone, wo er/sie mit klobigen Wollhandschuhfingern herum tippte. Die Bahnhofsuhr zeigt 07:04, es herrschten eisige 11° (in Worten: minus elf Grad Celsius). In meiner unendlichen Güte hatte ich Heidi heute unseren beheizbaren, tomatenroten Spanier überlassen, um sich bei Coiffeur Peter die Spitzen schneiden zu lassen und einige wichtige Besorgungen zu erledigen. Ich opferte mich für die Fahrt in die Fischkonservenfabrik auf dem Altar der Öffis.

Was sollte das überhaupt heißen, unbestimmt verspätet? Die Wiener Verkehrsbetriebe und österreichischen Bahnen sind ja bekannt dafür, ihre Fahrgäste gern im Dunkeln tappen zu lassen. Die Gründe für Verspätungen und Ausfälle, neue Abfahrtszeiten und Bahnsteige gehören zu den bestgehüteten Geheimnissen der Republik. Als hätte sie es geahnt, bestand Heidi heute früh darauf, dass ich meinen wertvollen Körper mit langärmeliger und langbeiniger Angora-Skiunterwäsche gegen die Todeskälte schütze. Mich fror trotzdem erbärmlich, ich holte die Thermoskanne aus meiner Aktentasche und goss mir einen kräftigen Schluck heißen Kaffees in den Plastikbecher. Bahnsteig 2 füllte sich mit nervösen, durchgefrorenen Menschen, die Anzeigetafel behauptete weiterhin stoisch „Zug unbestimmt verspätet“. Ich stampfte mit den Beinen auf die Betonfliesen, ruderte mit den Armen, und machte allerlei Dehn- und Streckübungen, um die sibirsche Kälte aus den steifen Muskeln zu vertreiben. Plötzlich kam Bewegung in die Menschenmasse, unwilliges Gemurmel schwebte in Form von dampfenden Atemwölkchen über dem Bahnsteig. „Zug fällt aus“ stand da unübersehbar, der Mob tobte. Ich machte ein Foto mit dem Smartphone und schickte es Heidi per WhatsApp. Dazu schrieb ich „Die letzten Tage der Menschheit. Es regieren Chaos und Desinformation! LG, Moser“. Heidi schwieg. Wahrscheinlich wusch ihr Herr Peter gerade mit seinem biologisch-veganen Shampoo das rabenschwarze Haupthaar. Meine Nase hatte inzwischen die Farbe meiner dunkelroten Daunenjacke angenommen.

Plötzlich sah ich keine zwei Meter vor mir einen glatzköpfigen Hünen in Uniform, der gelassen das Treiben beobachtete. Gott sei es gepriesen, eines der seltenen, fast ausgestorbenen Individuen der Spezies Bahnmitarbeiter! Nun hieß es rasch handeln, ehe ihn die frierende und wartende Meute entdeckte und die Verspätungsinformationen aus ihm heraus prügelte. Ich pirschte mich von hinten an die Uniform heran, zupfte sie am Ärmel, senkte unterwürfig das Haupt und sagte: „Verzeihen Sie gnädigst die Störung, Herr Obereisenbahnsektionschef! Hätten Sie wohl die Güte, uns über die verzwickte Situation aufzuklären? Was ist passiert, wann fährt der nächste Zug ein? Ich müsste nämlich dringend in die Fischkonservenfabrik. Ich bin in leitender Position und unabkömmlich!“ Es ist immer klüger, sich mit Behördenvertretern und Uniformträgern gut zu stellen, anstatt sie anzupöbeln. Vorsichtig blickte ich auf. Der kahle Riese sah mich mitleidig an und zeigte auf ein kleines Metallschild, das auf seiner imposanten, dunkelblauen Uniformbrust prangte: Herr M. Drasovic, Fa. Mooslechner & Söhne, WERKSCHUTZ stand da zu lesen. „Ich Security Firma Mooslechner“, grunzte er. „Sie wissen nichts über die Störung der Schnellbahn?“ frug ich verzweifelt. Er antwortete „Geh scheißn!“ und schob sich einen Kaugummi in den Mund. „Danke, aber auf Bahnhofstoiletten kann ich aus ästhetischen und hygienischen Gründen nicht. Schönen Tag!“

Meine Zehen waren inzwischen abgestorben.  Unter meiner dicken Wollmütze vernahm ich dumpf und unverständlich eine Durchsage der Fahrdienstleitung: „Aufgrumpf einrrr vereisten Oberleitung kommt es bei der Scheißbahn S3 drzeit zu unregelm… …verbindungen und Ausfällen. Wirbeiten an dr Behebung des Schadens. Bidde steignsie auf unseren Schienen..satzverkehr um.“ Wie Lemminge setzte sich die Masse der Wartenden auf der Suche nach dem Schienenersatzverkehr in Bewegung. Ich war mittendrin statt nur dabei, und wurde trotz heftiger Gegenwehr in einen bereitstehenden, klapprigen Bus der Wiener Verkehrsbetriebe geschubst. Verzweifelt umklammerte ich meine Aktentasche, und ließ mich eingekeilt zwischen stinkenden Wintermänteln 40 Minuten durch die halbe Stadt karren. Schließlich spie mich der Bus in einer Gegend aus, die mir völlig fremd war. Langgestreckte Lagerhallen, in der Ferne ein Sozialbau mit winzigen, rechteckigen Fenstern, keine Spur von meiner Fischkonservenfabrik. Wo war ich?

Dank Google Maps ortete ich meine Lage und stellte fest, dass sie beschissen war und ich mich 4,5 km Luftlinie entfernt von meinem Arbeitsplatz befand. Es war 09:13 und hatte -9,8° (in Worten: minus neunkommaacht Grad Celsius). Der Kaffee in meiner Thermoskanne ging zur Neige. Ich schrieb an Heidi: „Aufgrund einer vereisten Oberleitung bin ich in der Wildnis gestrandet. Bin arbeitsunfähig. Würdest du mich nach dem Friseur abholen?“ „Sicher“, antwortete Heidi aus dem Frisiersalon. „Kann aber noch 1 – 2 Stunden dauern, Peter rührt gerade die Farbe an.“ Ausgerechnet heute wollte mein treues Weib von rabenschwarz auf kastanienbraun wechseln. Ich verkroch mich vor dem eisigen Wind in einer leeren Bauhütte und erkundete mittels Nachrichten-App die Welt. Für das Wochenende prophezeite die Wetterredaktion frühlingshafte + 15° (in Worten: plus fünfzehn Grad Celsius).

29 Kommentare zu „Zug nach Nirgendwo“

  1. Wenn es einem erwischt kann man es erst einmal richtig nachvollziehen,
    die Ohnmacht die einem befällt in solch einem Moment. Sie Armer, total Durchgefrorenem, aber dafür mit Durchgestylter Ehefrau, ist doch tröstlich ! L.G.😩

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  2. Lieber Herr Moser!

    Bei dieser Kälte wäre es wohl besser gewesen, wenn Sie Ihrer lieben Heidi eine kastanienbraune Perücke geschenkt hätten. Dann sind die Haare gefärbt, der Kopf bleibt schön warm und Sie können gemütlich mit dem tomatenroten Spanier über die glatten Straßen schlittern. 🙂

    Herzliche Grüße aus dem Kühlschrank
    Mallybeau

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  3. Lieber Herr Moser,
    ich hoffe die Fische sind zwischenzeitlich in der Konservenfabrik nicht erfroren.
    Wenn ja, dann drücke ich die Daumen, dass sie am Wochenende wieder auftauen … 🙂
    Gruß
    Herr Ösi

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  4. Im Südwesten von Wien gab es heute Stromausfall für ein paar Stunden. Nix Straßenbahn, U-Bahn, Schnellbahn ….. Vielleicht warst du der Eisbär mit der rauchenden Aktentasche und dem dezenten Fischgeruch ……..

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  5. Wien Meidling von ca. 8 Monaten (also ein wenig wärmer):
    Zug nach Flordisdorf von Bahnsteig 2 um 08.32
    Zug nach Wiener Neustadt von Bahnsteig 2 um 08:32
    Äh – wird das nicht ein wenig eng?
    Tatsächlich kam nur der Floridsdorf-Zug (der Geisterzug nach Wr. Neustadt ist zwar lt. Anzeige „abgefahren“, gesehen hat ihn aber niemand).
    Seien wir doch froh, dass die ÖBB über eine tolle, vollautomatische Computersteuerung verfügt und freuen wir uns auf die tollen, vollautomatischen, computergesteuerten Autos. Die ebenso fehlerlos funktionieren werden.
    … Ich bleib bei meinem Käfer!

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  6. Ganz Europa friert seit Tagen und dann wird die ÖBB vom Winter überrascht. Ja, so kanns gehen.
    Es ist ja wirklich unvorhersehbar, dass es in Winter eiskalt ist.
    Aber – der nächste Sommer kommt bestimmt.
    liebe Grüße.

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  7. Ach ja, die Wiener Verkehrsbetriebe „smile“.
    Mit den +15 Grad am Wochenende, das ist immer noch ein Wunsch, aber wie wir ja wissen, ist das Leben kein Wunschkonzert.
    Mir ist auch kalt …..

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