„Sei ein Heiliger, ein Sünder. Gib dir alles, werde ganz.“
(Konstantin Wecker)
Sehr häufig ereilt Herrn Moser die Publikumsfrage, wie es denn um den Wahrheitsgehalt seiner launigen Geschichten bestellt sei. Natürlich lasse ich mir nicht in die Karten blicken und antworte meist sehr allgemein, so im Sinne von „Wenn ein Magier auf der Bühne ein junges Fräulein zersägt, glauben Sie dann, er könne tatsächlich zaubern?“ Was ich damit sagen will? Auch meine Wenigkeit gilt ja als Magier, als Magier der Worte. Und als solcher bediene ich mich auch der Gesetzmäßigkeiten des Showbusiness, arbeite mit Ablenkung, hübschen Assistentinnen, Überraschungseffekten, Übertreibungen, Spiegeln und doppelten Böden, um die Zuschauer (in meinem Fall die Leser) in meinen Bann zu ziehen. Mit der nackten „Wahrheit“ lockt ein langweiliger Abteilungsleiter einer Fischkonservenfabrik und Reihenhausbewohner keinen feuchten Pudel hinter der Chaiselongue hervor. Da braucht man schon ein bisschen Lametta und Trommelwirbel, there´s no business like showbusiness. Heute allerdings darf ich Ihnen von einem Vorfall erzählen, der sich genauso 1:1 zutrug. Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe! Ein paar kleine Übertreibungen sind schmückendes Beiwerk und haben rein dekorativen Charakter.
Zu Konstantin Weckers 70. Geburtstag im Juni 2017 erschien seine Biografie „Das ganze schrecklich schöne Leben“, die so ungewöhnlich ist wie das Leben und Schaffen des bayrischen Kraftgenies. Seine Texte, Lieder und Worte haben Gewicht, und sind in Zeiten von Rechtsruck, sozialer Kälte, Turbokapitalismus und Kriegspolitik absolut notwendig. Meine geliebte Heidi, Schwiegermama Inge und ich zählen zu den Fans des Ausnahmekünstlers Wecker, dessen mutiges, wild-bewegtes und von der Muse reich geküsstes Leben wir schon bewundern, seit sie ihm 1978 den Willy daschlogn ham. Es gab also nicht viel zu überlegen, als das Cinema Paradiso in Baden bei Wien für den 29. November eine Lesung mit dem Meister höchstpersönlich ankündigte.
Gestern quetschte sich bei Einbruch der Dunkelheit das ganze schrecklich schöne Moser-Triumvirat in den tomatenroten Spanier und düste in den beschaulich-edlen Casino-Vorort im Süden von Wien. „Auf nach Konstantinopel!“ witzelte ich in Anspielung auf den heutigen Abend, doch mein kluger Gag verpuffte wirkungslos zwischen Beifahrersitz und Rückbank, da sich Heidi und Inge leidenschaftlich darüber stritten, wessen Handy über die bessere Kamera verfügt. Mein braves Weib wollte nämlich eine Biografie erwerben, Herrn Wecker signieren und diesen Akt fotografisch in Szene setzen lassen. Heidi träumte bereits seit Tagen von einem tollen Foto an der Seite von Konstantin Wecker, und bei der Autobahnausfahrt Baden erhielt unsere erfahrene Social-Media-Fotografin Inge den Zuschlag, ich war nicht einmal in die engere Wahl gekommen. Wir ließen uns von Google Maps in das beschauliche Städtchen und dort in die Nähe des Paradiso-Kinos führen, suchten in dem völlig überparkten Wiener Vorort einen legalen Parkplatz und wurden erst kurz vor Lesungsbeginn irgendwo im Nirgendwo fündig. Atemlos hetzten wir durch die Nacht, kreuz und quer durch dunkle Vorstadtgassen, vorbei an griechischen Tavernen, aus der Jukebox erklang Musik, die fremd und südlich war, immer hinter Heidi her, die sich von Gott, weiblicher Intuition und Satellitennavigation lenken ließ. Zwei Minuten, ehe der 70jährige Wecker an seinem Lesetischchen auf der Bühne Platz nahm, erreichten wir die übermäßig stark mit Wintermänteln bestückte Kinogarderobe. Es war schließlich die bisher kälteste Nacht des Jahres mit Minusgraden im zweistelligen Bereich angekündigt.
Der kluge Konstantin erfüllte unsere Erwartungen voll und ganz. Er las und erzählte aus seinem Leben, berichtete von den vielen Stationen, unter anderem von der Zeit, als er sich Peter Wacker nannte und in Softpornos mitwirkte, oder nach einer kleinen Gaunerei für sechs Monate im Zuchthaus landete. Natürlich wurde auch der Zeit, als Drogen sein Leben bestimmten, Platz eingeräumt, aber er sprach auch über viele andere wichtige Aspekte des Lebens – über Eltern, Kinder, Erziehung, Politik, Flüchtlinge, Gedichte, Prosa, Gesungenes, Gelesenes. Ganz zum Schluss gab uns der edle Herr Wecker, gänzlich unplugged, noch einen seiner großen Hits mit auf den Heimweg:
Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
und der Himmel violett,
weiß ich, dass das meine Zeit ist,
weil die Welt dann wieder breit ist,
satt und ungeheuer fett.
Nachdem der letzte Applaus verklungen war, drängten wir uns gemeinsam mit rund 120 anderen Wecker-Fans im Vestibül rund um ein winziges Tischchen, an dem der Künstler Hof hielt und seine Werke eigenhändig unterschrieb. Überraschend schnell war meine resolute Heidi zum bayrischen Barden vorgedrungen und ließ sich „Für Frau Moser, herzlichst Konstantin Wecker“ in die Biografie kritzeln. Ein wenig überrumpelt stand Schwiegermama Inge eingekeilt in den Menschenmassen, und hielt auf der Jagd nach dem perfekten Schnappschuss von Heidi & Konsti verzweifelt ihr Handy in die Höhe. Leider versagten aufgrund der fast schon tumultartigen Umstände die normalerweise tadellosen Fotografierkünste unserer Inge. Die sonst so sympathischen Gesichter meiner Frau und des poetischen Klavierspielers waren auf acht Fotos zu dunkel, verschwommen, Augen geschlossen, mit doofem Ausdruck grinsend. Heidi war den Tränen nahe, und auf das heftigste diskutierend zogen wir wieder durch die dunklen Badener Gassen. Allerdings achtete keiner von uns darauf, wohin wir gingen, bis ich schließlich die alles entscheidende Frage stellte: „Wo steht eigentlich das Auto??“ Schlagartig verstummte die emotionale Foto-Diskussion und wir blickten ahnungslos durch die Nacht.
„Da vorne links bei der Bäckerei sind wir vorbeigekommen!“ „Nein, da waren wir schon. Wir gehen im Kreis!“ „Wie heißt die Straße?“ „Pergerstraße“ „Nicht diese, in welcher Straße steht das Auto?“ „Keine Ahnung, hab nicht aufgepasst.“ „Ich hab Hunger!“ Vor unseren Mündern stiegen aufgeregte Atemwolken in den Nachthimmel, auf den kaltgefrorenen Nasen klingelten vorweihnachtliche Rotzglöckchen. Die Lage war hoffnungslos. Wir konnten auch niemanden um Hilfe bitten, keine Handy-App, keinen Polizisten, keinen ausländerfreundlichen Badener Gutmenschen. Niemand wusste, wo wir den tomatenroten Spanier geparkt hatten, am wenigsten wir selbst. Nachdem wir etwa 45 Minuten durch die Kleinstadt geirrt waren, brach ich an einer alten Kirchenmauer zusammen und kauerte mich vor dem kalten Wind Schutz suchend in den Torbogen. Ein vorbei hastender Mitmensch warf mir 50 Cent zu, Heidi zog mich an den erfrorenen Händen hoch und beschwor mich, nicht aufzugeben. „Nein, lasst mich hier liegen, ich falle euch nur zu Last. Erschießt mich, geht alleine weiter! Heidi, ich liebe dich!“ Schwiegermutter Inge zückte ihr Handy und machte ein Foto vom gebrochenen Abteilungsleiter, der zitternd im Kircheneingang kauerte. Es gelang erstaunlich gut, was Heidi neuerlich an die misslungenen Wecker-Fotos denken ließ. Inge zuckte unter ihren verbalen Seitenhieben. Kurz darauf beschlossen wir, uns zu trennen. Damit wollten wir nicht nur unsere Chancen, den Wagen wiederzufinden, vergrößern, auch weiterer Streit konnte vermieden werden. Heidi bog in die Gasse links ein, die Schwiegermama schlug sich auf die rechte Seite, ich wartete bei der Kirche – nur für den Fall, dass unser rotes Auto vorbeikam. Wir versprachen uns, telefonisch in Kontakt zu bleiben.
30 Minuten später klingelte mein Handy. Meine tapfere Heidi hatte den tomatenroten Spanier ausfindig gemacht und war auf dem Weg zur Kirche. Ich hatte inzwischen 4 Euro 75 an Almosen verdient. Auf einem festlich geschmückten Platz sammelten wir Inge auf, die fleißig Weihnachtsbeleuchtung für Facebook fotografierte. Wir waren alle völlig durchgefroren, hundemüde und ausgehungert. „Gehen wir noch zum Griechen?“ frug die Schwiegermutter und zeigte auf ein noch gut beleuchtetes Lokal namens El Greco in rund 50 Metern Entfernung. Auf der Suche nach einem Parkplatz gondelten wir eine halbe Ewigkeit durch das nächtliche Baden, und als wir schließlich wieder vor dem griechischen Restaurant standen, gingen dort die Lichter aus. Mitternacht. „Ui schade, ich habe mich schon so auf ein Lamm-Souflaki mit Tzatziki gefreut“, zeigte sich Inge enttäuscht. „Hat sich jemand gemerkt, wo das Auto steht?“ frug Heidi in die Runde. Ich bin ja seit 21. Oktober rauchfrei, aber in dieser Sekunde war mein Verlangen nach einer Zigarette so groß wie nie zuvor. Stattdessen sang ich in Anlehnung an Konstantin Wecker:
Wenn der Winter nicht mehr weit ist,
und die Lippen violett,
weiß ich, dass das meine Zeit ist,
satt und ungeheuer fett.