Schwarzwälder Kirsch

Inge, die Frau Mama meiner angetrauten Adelheid und somit auch meine Schwiegermutter, ist eine überaus freundliche und rüstige Nichtraucherin in ihren 70ern. Oft gut gelaunt und stets damenhaft gepflegt, trägt sie ihr weißes Haar perfekt onduliert, verströmt Veilchenduft und wirkt auf den ersten Blick mehr wie eine Literaturdozentin an der Harvard University denn wie eine unternehmungslustige Wiener Pensionärin.

Gestern lud Inge Frau Moser und mich zu Kaffee und Kuchen auf den Balkon ihrer mit zahllosen, peinlich genau entstaubten Porzellanfigürchen dekorierten Wohnung. Zur Information der Leserschaft sei erwähnt, dass dieses Musterexemplar einer Schwiegermutter auch eine kleine Marotte hat: Sie wird von der Angst geplagt, ihre Besucher könnten „vom Fleisch fallen“ und hungrig ihr Porzellanpuppenheim verlassen.

Zu meiner großen Freude stellte Inge eine Schwarzwälder Kirschtorte auf die Kaffeetafel – seit Jahren unangefochten auf Platz 1 meiner Kuchen- und Torten-Hitparade. Nachdem die ersten überdimensionierten Stücke der Köstlichkeit den Weg alles Irdischen gegangen waren, legte Heidis Mama umgehend und ungefragt eine zweite Runde nach. Als sie das Tortenmesser zum dritten Mal zückte, hob ich abwehrend die Hände und aus meinem cremig-schokoladigen Kirschmund war ein ersticktes „Nein danke!“ zu hören. Doch Inge duldet in Essensangelegenheiten keinen Widerspruch.

„Kinder, was darf ich euch noch bringen?!“ frug unsere mütterliche Gastgeberin, nachdem gut zwei Drittel der kreisrunden Kalorienbombe in unseren Mägen explodiert war. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in der gut sortierten Küche und kam mit einem Silbertablett voll mit delikat belegten Sandwiches wieder. Sie meinte, ich hätte während meines dreiwöchigen Aufenthaltes in Schweden ohnehin nichts gegessen. Um die besorgte Frau nicht zu vergrämen, schob ich noch zwei Salamibrötchen mit Mayonnaise und Gürkchen in Herrn Moser. Kaffee und Pfirsich-Eistee flossen in Strömen.

Als wir zwei Stunden später zum Auto wankten, die restliche Torte sicher eingetuppert im leichten Marschgepäck, war mein zitronengelbes Kurzarmhemd zum Zerreißen gespannt. Der prall gefüllte Wanst folgte der Erdanziehung und so stolperte ich mit hängenden Schultern und in Vorfreude auf meinen kunstledernen Fernsehsessel vor mich hin. Bis mich ein stechender Schmerz im Rücken aus meinem Dämmerzustand riss. Frau Moser hatte mir den Autoschlüssel in die Wirbelsäule gebohrt und zischelte: „Geh gerade, nicht so gebückt wie ein alter Mann!“ Gehorsam richtete ich mich auf, Schultern zurück, Bauch raus. Dabei sprengte ich einen Hemdknopf in den Rinnstein, was Heidi mit „Und abnehmen könntest du auch wieder mal!“ kommentierte.

14 Kommentare zu „Schwarzwälder Kirsch“

  1. Das weckt schöne Erinnerungen an unsere liebe Tante Manda.Die Ausflüge zu ihr nach Wien-Floridsdorf waren geprägt von reichlich Essen,allem voran
    natürlich die Schwarzwälder Kirsch.Leider ist das alles schon 30 Jahre her.

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  2. hätte ich die am 4. September gehabt, leider hatte ich keine, wo doch Schwarzwälder meine Lieblingstorte ist. Wenn ihr nochmal sowas habt, gib mir Bescheid, Du könntest mir da dann ein Stück virtuell zukommen lassen. Danke 🙂

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